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22. Oktober

Von Natur zum Bösen geneigt

Der Herr, unser Gott, verlasse uns nicht und ziehe die Hand nicht ab von uns, zu neigen unser Herz zu ihm. 1. Könige 8,57‑58

Das ist ein tapferes Gebet. Es beschämt alle unsere weichen, wehleidigen Gebete, da wir Gott darum bitten, er solle uns doch mit Handschuhen anfassen, solle uns doch ja kein Härlein krümmen. Nein, der da betet, Gott solle "seine Hand nicht von uns ablassen, zu neigen unser Herz zu ihm", ist kein Weichling. Was der da bittet, das heisst nichts weniger als, Gott solle ihn und sein Volk heimsuchen und solle nicht ablassen mit Heimsuchungen, bis dass es "battet"*. Aber warum ist das denn eigentlich nötig? Warum muss Gott uns heimsuchen? Warum kommen wir denn nicht selber, in froher und freudiger Freiwilligkeit, heim? Das ist das Geheimnis unserer Menschenart. Wir kommen tatsächlich nicht von selber heim, sondern warten, bis dass wir am Ohr gefasst und heimgeholt werden. Aber auch dann, wenn Gott uns heimsucht, auch dann noch wehren und bäumeln** wir uns gegen ihn und versuchen, wo und wie immer wir ihm auskneifen könnten. Darum muss eben der Vater, wenn er uns heimholt, oft etwas hart zugreifen, und darum hat das herrliche Wort "Heimsuchung" diesen unglückhaften Klang erhalten. Wir sind eben "von Natur zum Bösen geneigt". Das wird uns völlig klar aus dem Wort, das über dem heutigen Tag steht. Unser ganzes Wesen ist sozusagen von Gott weggekrümmt. So wie die Pflanzen alle der Sonne zugekrümmt sind, so ist unsere Menschennatur gerade umgekehrt, vom göttlichen Licht weg, der Finsternis zugewachsen. Begreiflich, dass es dann auf "Brechen und Biegen" geht, wenn die Bitte dieses Mannes da erhört wird, wenn Gottes Hand tatsächlich nicht ablässt, "unser Herz zu ihm zu neigen". Es handelt sich dann um eine völlige Umstellung um 180 Grad. Es ist dann so, wie wenn man eine krummgewachsene Rute zuerst gerade richtet und dann exakt auf die andere Seite hinunterkrümmt. Der Baumschulist aber weiss, dass alles Fruchtholz an den Bäumen, das gegen sein natürliches Wachstum abgekrümmt wird, nachher ganz besonders reiche Frucht ansetzt.

Herr, ziehe deine Hand nicht ab von mir und meinem Volk, zu neigen unser abgeneigtes Herz zu dir. Ich bitte dich darum, auch für meine Kinder. Du kennst alle unsere Neigungen. Neige unser ganzes Herz zu dir. Amen.

Ob bei uns ist der Sünde viel, / bei Gott ist vielmehr Gnade; / sein Hand zu helfen hat kein Ziel, / wie gross auch sei der Schade. / Er ist allein der gute Hirt, / der Israel erlösen wird / aus seinen Sünden allen. Martin Luther

* funktionieren, passen.
** 'sich auf die Hintern stellen' gegen, widerstehen.

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