Deine Rechte sind mein Lied in dem Hause meiner Wallfahrt. Psalm 119,54
Jeder von uns, die wir diese täglichen Worte lesen, hat sein Lied, sein ganz besonderes, persönliches Lied. Dieses unser Lebenslied hat im Grund gar nicht so viele Töne, wie man meinen sollte. Es ist fast wie bei den Vögeln des Himmels, die ihr Gesätzlein pfeifen und dieses gleiche, kurze Liedlein immerfort wiederholen. So gehen ein paar ganz bestimmte Gesätzlein von jedem Menschenleben aus. Des einen Lied heisst: Schaffen — schaffen — schaffen. Des anderen Lied heisst: Essen — essen — essen. Oder: Klagen — klagen — klagen. Oder: Ich — ich — ich. Oder auch: Danken — danken — danken. Solch ein Lied hat nun auch der Mann des 119. Psalmes. Sein Lied, mit dem er sein Haus füllt, das zu hören ist auf der Treppe und im Hausgang, in Küche und Keller, in der Wohn- und in der Schlafstube, in der Kinder- und in der Gesindestube, sein Lied heisst: "Gottes Rechte — Gottes Rechte — Gottes Rechte." "Deine Rechte sind mein Lied in dem Hause meiner Wallfahrt." Er weiss sich unterwegs, er weiss sich als Fremdling und als Pilger. Sein Leben kommt ihm vor wie eine Wallfahrt, und sein Lied ist darum ein Pilgerlied. Sich selber und den Seinigen und allen, die im Hause seiner Wallfahrt Einkehr halten, möchte er täglich Gottes Rechte vor Augen halten. Gottes Rechte, die feststehen wie die Berge, sind ihm eine Freude und ein Trost. Nicht um eine lederne Moral geht es hier, sondern wirklich um ein Lied. Gottes Rechte sind ihm zum Evangelium, zum Freudengeschrei geworden. So lautet nun sein Morgen- und sein Abendlied, sein Herbst- und Frühlingslied: Gottes Rechte — Gottes Rechte. Wie lautet mein Lied?
O Herr, stimme mein Herz, stimme meine Gedanken und Gefühle, stimme mein ganzes Wesen auf den einen Ton, der deinen Namen preist. Lass diesen einen Ton immer mehr alle anderen übertönen. Sei du selber mein Wallfahrtslied. Und wenn meine Fahrt zu Ende geht, o dann lass mich eingehen in den höheren Chor, wo die Engel mit reinen Lippen deinen Namen sprechen. Amen.
Gott ist mein Lied, / er ist der Gott der Stärke, / Herr ist sein Nam', / und gross sind seine Werke, / und alle Himmel sein Gebiet. Christian Fürchtegott Gellert