Du erhörst Gebet, darum kommt alles Fleisch zu dir. Psalm 65,3
Alles Fleisch. Es ist hier offenbar ein Wunder passiert. Der Mann des 65. Psalmes hat die Bedürftigkeit allen Fleisches erkannt und weiss, dass er selber auch dazu gehört. Es ist ja ein gewisses Ärgernis, dass wir Menschen so dran sind, dass wir aufs Bitten, aufs Suchen und aufs Anklopfen angewiesen sind. Wir haben eben nichts, darum müssen wir bitten. Das ist unsere menschliche Lage und Bedürftigkeit. Bettler sein ist kein beneidenswerter Beruf. Das meint dieser Mann da mit "Fleisch", wenn er sagt: "Du erhörst Gebet, darum kommt alles Fleisch zu dir." Aber er meint damit nicht nur die Hinfälligkeit, er meint damit auch die Sündhaftigkeit, ist doch das Fleisch auch der Boden, in dem wenigstens eine der Wurzeln der Sünde ihre Kraft und ihr Leben her hat. Gott selber muss einem Menschen das Auge öffnen und das Herz auftun, dass er seinen Fleischeszustand erkennt, darüber erschrickt und zu Gott hin flieht. Weil dies Wunder der Sündenerkenntnis beim Mann des 65. Psalmes geschehen ist, darum kann er fortfahren mit den Worten: "Unsere Missetat drücket uns hart, du wollest unsere Sünde vergeben." Unser natürliches Fleisch will eben sonst nicht zu Gott. Es ist Gott völlig und radikal abgeneigt, so wie eine Rute weggekrümmt ist, dem Lichte zu, so ist unser Fleisch weggekrümmt der Finsternis zu. Wenn aber aus dem Geist heraus die Sünde und Missetat erkannt ist, dann, dann geschieht das Wunder, dass "alles Fleisch zu dir flieht". — Wo wäre ich, wenn ich mit meinem "Fleisch" nicht wie mit einer offenen Schwäre zu ihm gehen dürfte! wenn es keine Vergebung gäbe, und wenn nach der Bitte ums Brot nicht sofort die andere Bitte uns geschenkt, ja, geschenkt!! worden wäre: "Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern."
Herr, ich bitte dich darum, es möge heute an mir und den Meinen dies Wunder geschehen, dass alles Fleisch zu dir kommt. Amen.
Gott der Tage, Gott der Nächte, / meine Seele harret dein, / lehnet sich an deine Rechte, / nie kannst du mir ferne sein, / Vater, nie dein Kind verlassen; / immer kann ich dich umfassen. / Deine weise Güt und Macht / leitet mich bei Tag und Nacht. Johann Caspar Lavater