Und alsbald trat er zu Jesu und sprach: Gegrüsset seist du, Rabbi! und küsste ihn. Matthäus 26,49
Die Stunde des Judas ist immer auch eine Stunde der Klärung, eine Stunde der Enthüllungen, des Offenbarwerdens alles Bösen. Ich habe mich früher oft gefragt, warum eigentlich dieser Judas zu Jesus hintreten und ihn anreden und ihn küssen müsse. Warum konnte er nicht aus der Deckung eines Baumes oder einer Mauer auf ihn zeigen und ihn aus dem Hinterhalt verraten? Auch das muss eben geschehen. Judas muss offenbar werden. So frei und so selbstherrlich Judas zu handeln scheint, auch er steht unter einem "Muss". Meint ihr, der Schritt aus dem Hinterhalt sei ihm leicht gefallen? Wenn er nicht gemusst hätte, er wäre Jesus niemals unter die Augen getreten. Aber er musste sich jenes Wort sagen lassen — Luther übersetzt es nicht ganz genau mit: "Freund, warum bist du gekommen?" Es heisst aber nicht "warum", sondern "wozu", ganz wörtlich heisst es: "Wozu du gekommen bist —" Und dann muss man ergänzend hinzudenken: "Das tue jetzt!" Mach keine Tänze! Mach mir nichts vor! Zieh die Maske ab! Mach vorwärts! Johannes sagt hier: "Was du tun willst, tue bald!" Das Wort aber, das Luther mit "Freund" übersetzt, hat im griechischen Urtext einen viel weniger freundlichen Klang. Es heisst dort 'hetaire', das ist genau unser Fremdwort Hetäre und kann heissen "falscher Freund", treuloser Freund, Buhle, Hurenbub. Mein "Freund", Hetäre, Hurenbub, wozu du gekommen bist, das tue jetzt halt! Das ist die Entlarvung des Judas. Es ist unerhört und ein Wunder vor Gott, dass es dem Bösen auf die Dauer nicht gelingen kann, sich zu verhüllen. Es muss hervortreten aus dem Schatten, heraus ans Licht. Judas muss Jesus küssen. Es ist diesem Judas Gewaltiges gelungen. Aber etwas ist ihm nicht gelungen. Nicht gelungen ist es ihm, zu verbergen, dass er Judas ist. So sehr das Böse die Verborgenheit liebt, Gott erzwingt die Offenbarung des Bösen in der Welt, wenn es ausgereift ist. Das ist ein Grund, wozu es eine Stunde des Judas gibt.
Du bist der Herr auch über die Finsternis. Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Amen.
Wir beten an und loben dich, / wir bringen Ehr und danken, / dass du, Gott Vater, ewiglich / regierst ohn' alles Wanken. / Ganz unbegrenzt ist deine Macht, / allzeit geschieht, was du gedacht; / wohl uns solch eines Herren! Nikolaus Decius