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12. September

Die Bitte ums Brot

Unser täglich Brot gib uns heute. Matthäus 6,11

Mit dieser vierten Unser Vater Bitte hat der Erlöser den Seufzer des Arbeiters, dem sein Lohn gekürzt wird, den Seufzer der Hausmutter, die beim Schuhputzen gesehen hat, dass die Sohlen der Kinderschuhe durchgelaufen sind, den Seufzer aller Kreatur — zu seinem selbsteigenen Seufzer gemacht. Christus stellt sich mit uns auf den gleichen Boden und sagt mit uns bedürftigen Kreaturen zusammen "unser". Merkst du nicht, welch eine Herablassung seinerseits darin liegt? "Unser täglich Brot gib uns heute." Mit dieser Bitte setzt der Herr sich gleichsam mit dem armen Lazarus zusammen unter den Tisch des reichen Mannes und wartet mit Lazarus zusammen auf die Brosamen, die vom Überfluss herunterfallen. "Unser täglich Brot", damit lässt er sich mit Lazarus zusammen von den Hunden die Wunden ablecken. Gemeinsam mit Lazarus, mit dem Lazarus aller Zeiten, gemeinsam mit dem elendesten Lazarus sagt der Herr der Welt "unser". Damit ist der arme Lazarus, solang es einen solchen gibt auf Erden, untrennbar mit dem Heiland zusammengebunden. Und damit wird für die Gemeinde Christi die materielle Existenz, die sonst immer und überall ein Gegenstand des Kampfes und der Gewalt ist (und ausserhalb Christi tatsächlich auch sein muss!), hineingenommen in die Nähe und Niedrigkeit des Kreuzes Christi. In Christus wird die Brotfrage Gegenstand des Gebetes. Das ist das christliche Existenz-Gebet: "Unser täglich Brot gib uns heute." Ja, so wie es ausserhalb Christus nur einen Existenz-Kampf gibt, so gibt es in Christo ein Existenz-Gebet. Das Existenz-Gebet des Christenmenschen ist keine harmlose Sache. Ich habe in letzter Zeit einige Male Kleinhandwerker Brot und Verdienst suchen hören mit den Worten: "Ich bete auch ums täglich Brot." Das kann das Gewissen dessen, zu dem es gesagt wird, tiefer treffen, als wenn es hiesse: "Ich kämpfe auch ums täglich Brot." Denn hier hat man's mit Gott zu tun, wo ein Mensch ums täglich Brot betet, mit dem Gott, der will, dass allen Menschen geholfen werde, und der seine Erde gross genug geschaffen hat, dass alle darauf Arbeit haben. Wenn einer, der ums Brot bittet, vor der Türe steht, dann steht Christus vor der Tür.

Herr, weck du deine Gemeinde auf zu einer neuen Gemeinschaft und Brüderlichkeit. Wehre du dem Fortschritt des Unrechtes und der Lieblosigkeit. Amen.

Erhörst du doch der Raben Stimm, / drum unsre Bitt, Herr, auch vernimm; / denn aller Ding du Schöpfer bist / und allem Vieh sein Futter gibst. Nikolaus Hermann

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